Klimawandel schlimmer als gedacht?

Mittlerweile habe ich den Satz schon so irritierend oft gelesen und gehört, dass ich mich dazu auslassen muss: Der Klimawandel laufe „schneller (ab) als gedacht“ beziehungsweise sei „schlimmer als gedacht“.Ob es die Brände in Kalifornien, Sibirien oder Australien sind, bei denen zusätzlich große Mengen an Treibhausgasen frei werden, der Schwund des arktischen Eises, die jüngste Hitzewelle in Deutschland, oder die neuesten Projektionen des Meeresspiegels: Plötzlich sind alle überrascht. Huch, der Klimawandel ist da! Klar, es wurde davor gewarnt, aber dass es so schlimm kommt, hat man uns nicht gesagt. Auch in meinem umweltbewussten und aufgeklärten Bekanntenkreis scheint sich diese gefühlte Wahrheit festzusetzen. Leider lässt sich das Kleingedruckte unter den Schlagzeilen nicht immer darüber aus, wer hier angeblich was gedacht hat, wann das war, und warum das falsch gewesen sein soll. Suggeriert, gelegentlich auch explizit gesagt, wird aber, dass es die Experten seien, die den Klimawandel in der Vergangenheit unterschätzt hätten, und sich angesichts der heutigen Beobachtungen und Modellrechnungen korrigieren müssten. Aber ist das wirklich so?

Erstellt von: ZDF/Terra X/Gruppe 5/Luise Wagner, Jonas Sichert, Andreas Hougardy. Bildlizenz.

Ich bin der Frage einmal nachgegangen, indem ich die ersten beiden Sachstandsberichte des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) aus den Jahren 1990 und 1995 durchgesehen habe. Die IPCC-Sachstandsberichte fassen den jeweils aktuellen Stand der Klimaforschung möglichst umfassend und repräsentativ zusammen. Im Fall eines als „Business as usual“-Szenario bezeichneten Emissionspfads prognostiziert der erste IPCC-Bericht eine globale Erwärmung von 0,2-0,5 °C pro Jahrzehnt. Das 2°C-Ziel würde demnach ganz ungefähr im Jahr 2025 gerissen werden. Die tatsächliche Erwärmung lag dann in Wahrheit bei etwa 0,25 °C pro Jahrzehnt, die 2°C werden wir bei weiterhin hohen Emissionen in etwa 20 Jahren erreichen. So gesehen war die damalige Schätzung also eher zu dramatisch. Allerdings unterscheiden sich verschiedene Annahmen in den Berechnungen zwangsläufig von der stattgefundenen Realität, insbesondere die Emissionen verschiedener Treibhausgase und Aerosole, aber auch natürliche Klima-Antriebe wie Sonnenaktivität und Vulkanismus. Außerdem hatte man damals nur sehr wenige, aus heutiger Sicht sehr grobe, Klimamodelle.

Da das den Forschern bewusst war, gaben sie zudem eine Unsicherheitsspanne für die sogenannte Klimasensitivität (climate sensitivity) an. Die Klimasensitivität sagt aus, um wieviel Grad Celsius sich die Erde erwärmt, wenn der CO2-Gehalt sich verdoppelt. Bereits im Jahr 1896 vollbrachte Svantje Arrhenius die Meisterleistung, die Klimasensitivität allein mit Papier und Bleistift abzuschätzen. Er kam auf 5-6 °C, korrigierte das Ergebnis ein paar Jahre später aber auf 4 °C. Der sogenannte Charney-Report (1979), welcher die US-Politik auf das Problem aufmerksam machen sollte, gab eine Unsicherheitsspanne von 1.5-4.5 °C an (die auf nur zwei Modellen beruhte). Der erste IPCC-Bericht übernahm diese Spanne. Die weiteren IPCC-Berichte bestätigten diese Spanne. Der fünfte IPCC-Bericht, der auf Dutzenden von sehr komplexen Erdsystemmodellen beruhte, bestätigte diese Spanne. Die Beobachtungen des tatsächlich ablaufenden Klimawandels bestätigen die Modellrechnungen.

Abschätzung der Klimasensitivität in den fünf Sachstandsberichten des IPCC (zwischen 1990 und 2013). FAR = First assessment report, SAR = second assessment report, TAR = third assessment report, AR4 = assessment report 4, AR5 = assessment report 5. Grafik von Femke Milene, CC BY-SA 4.0.

Auch die Folgen des Klimawandels wurden frühzeitig in den IPCC-Berichten benannt, wenn auch meist nicht quantifiziert, da es keine geeigneten Modelle gab. Bereits der erste Sachstandsbericht nennt Dürren als größtes landwirtschaftliches Risiko, thematisiert den Schwund von Permafrost und Meereis, und prognostiziert neue Hitzeextreme, vor allem an Orten mit Trockenheit – all das können wir heute so beobachten. Der Anstieg des Meeresspiegels wird im ersten Sachstandsbericht auf 6 cm pro Dekade, im zweiten Sachstandsbericht auf 3-6 cm pro Dekade geschätzt. Seitdem wurden etwa 3,3 cm pro Dekade gemessen, die Realität liegt also auch hier eher am unteren Ende der ehemaligen Schätzungen. Aktuelle Erkenntnisse lassen allerdings eine Beschleunigung erwarten. Der Schwund des arktischen Sommermeereises findet dagegen schneller statt als heutige Modelle es wiedergeben. Allerdings ignorieren Wissenschaftler diese Schwierigkeiten natürlich nicht einfach. Das Datum, an dem die Arktis erstmals eisfrei sein wird, ist daher mit einer Unsicherheit von mehreren Jahrzehnten behaftet. Eine solche Unsicherheit zu kommunizieren ist nur ehrlich und kein Irrtum. Ein Irrtum wäre es, eine eisfreie Arktis in 15 Jahren auszuschließen, und es käme doch dazu.

Seriöse Medienberichte über Zukunftsszenarien des Klimawandels beziehen sich daher auf die Bandbreite des vorhandenen Wissens, und kommunizieren eine Unsicherheitsspanne statt einzelner Zahlen, genau wie der IPCC-Bericht. Schlagzeilen nach dem Strickmuster „schlimmer als gedacht“ haben allerdings meistens den Anlass einer einzigen neu veröffentlichten wissenschaftlichen Studie. Zu etwa 1000 existierenden Berechnungen käme also eine weitere dazu. Nehmen wir an, eine neue Studie berechnet (wie damals Arrhenius) eine Klimasensitivität von 4 °C statt dem bisherigen „best estimate“ von 3 °C. Gibt man allen Studien dasselbe Gewicht, hat sich der beste Schätzwert also um ein 1000stel Grad nach oben verschoben, d.h. von 3 °C auf 3,001 °C. Man mag natürlich argumentieren, dass neue Erkenntnisse alte Studien widerlegen mögen und daher mehr zählen sollten. Allerdings gibt es im Normalfall keinen Anlass, all die bisherigen 1000 Studien zu verwerfen. Die moderne Wissenschaft ist eher kein Wettstreit von Genies, sondern ein Gemeinschaftsprojekt, bei dem jede Studie ein weiteres winziges Puzzlestück hinzufügt.

Leider zeichnen die Medien oft ein falsches Bild von Forschung. Wenn es angeblich möglich ist, in ständig neuen Studien alles bisherige Wissen zu revidieren, ist es dann nicht verständlich, wenn Laien darauf hoffen, das Klimaproblem würde sich vielleicht doch noch im wahrsten Sinne des Wortes in heiße Luft auflösen? Genau deshalb ist es kontraproduktiv, wenn umweltbewegte Aktivisten und Medien auf diesem Zug mitfahren und „schlimmer als gedacht“-Nachrichten verbreiten. Ich nehme an, dass die Motivation dahinter ist, andere endlich aufzurütteln, um etwas zu tun. Diese Motivation ist ehrenwert. Aber wer so handelt, untergräbt dabei die Glaubwürdigkeit der Forschung, auf die sich Klimaschützer ja zu Recht gerne berufen. Und er entlässt jene Leute aus der Verantwortung, die wider besseren Wissens bisher nichts gegen den Klimawandel getan haben.

Mein Fazit lautet also: Der Klimawandel ist nicht pauschal „schlimmer als gedacht“. Der Klimawandel ist mehr oder weniger genauso schlimm, wie es Experten schon immer sagen, nur wollte niemand zuhören. Jetzt so zu tun, als hätten die Forscher sich vertan, führt in die Irre.

Erster Sachstandsbericht des IPCC (1990): https://www.ipcc.ch/reports/?rp=ar1
Zweiter Sachstandsbericht des IPCC (1995): https://www.ipcc.ch/reports/?rp=ar2