Kippt das Klima?

In den Medien hört und liest man immer wieder, der Klimawandel würde sich ab einem bestimmten Punkt „verselbstständigen“ oder „unumkehrbar“ werden. Dahinter verbirgt sich das Szenario, dass das Klima in einem Land, einer Region, oder auf der ganzen Welt plötzlich wie ein überdüngter See oder ein kenterndes Kanu umkippt, und die Gegend auf einen Schlag unbewohnbar wird. In seinem vielbeachteten (und mit zahlreichen Quellen unterfütterten) Video „Die Zerstörung der CDU“ postuliert Rezo einen solchen Kipppunkt für die gesamte Welt, der bei einer Schwelle von 2°C globaler Erwärmung erreicht sein soll. Er konnte es nicht besser wissen, denn selbst in der Faktensammlung der Scientists for Future findet sich unter Punkt 11 die Aussage: „Bei zunehmender Erwärmung der Erde werden gefährliche klimatische Kipp-Punkte des Erdsystems, d. h. sich selbst verstärkende Prozesse, immer wahrscheinlicher (Schellnhuber et al., 2016¹; Steffen et al., 2016² und 2018³). Dies würde dazu führen, dass eine Rückkehr zu heutigen globalen Temperaturen für kommende Generationen nicht mehr realistisch ist.“

In einem Segelboot kann eine kleine Gewichtsverlagerung zum Umkippen führen. Ob der Mensch solche Kippunkte auch im Klimasystem auslösen kann wird erforscht – aber leider zu oft als gesicherte Tatsache dargestellt.

Es fällt auf, dass sich die Warnungen vor Kipppunkten, sei es durch Rezo oder die Scientists for Future, stets auf dieselben wissenschaftlichen Veröffentlichungen berufen. In diesen Veröffentlichungen¹⁻³ wird das Risiko von Kipppunkten diskutiert und plastisch dargestellt. Allerdings zeigen die Ergebnisse eben nicht, dass es wirklich dazu kommen wird. „Sich selbst verstärkende Prozesse“ sind im Klimasystem immer aktiv, und ein wichtiger Grund dafür, warum der Klimawandel so stark ist, aber sie sind für sich genommen keine hinreichende Voraussetzung für einen Kipppunkt. Und dass Kippunkte mit steigender Erwärmung „immer wahrscheinlicher“ werden, ist eine triviale Aussage, da eben jedes Grad Erwärmung ein Stück Neuland ist. Mit wissenschaftlichen Methoden, eine harte Wahrscheinlichkeit zu berechnen, hat sie wenig zu tun.

Die ungefähr 30 komplexen Klimamodelle, die für die Sachstandsberichte des IPCC ausgewertet wurden, zeigen durchaus räumlich begrenzte Sprünge in den Szenarien⁴⁻⁵. Aber keines von ihnen zeigt bisher einen der gefährlichen Kipppunkte, über die so oft diskutiert wird – weder global, noch in einzelnen Ländern. Der Abbruch des „Golfstroms“ (genauer gesagt, der meridionalen Umwälzzirkulation im Nordatlantik) ist ein unter Experten sehr umstrittenes Szenario⁶. Plausibel ist nur, dass diese Zirkulation schwächer wird, was die Erwärmung in Europa etwas abmildern könnte. Das arktische Meereis schwindet dramatisch, mit fatalen Folgen für die dortigen Ökosysteme, ist aber nachweislich kein irreversibler Kipppunkt⁷⁻⁸. Gerade über Land, wo wir Menschen wohnen, sind abrupte Klimaänderungen in den Klimamodellen selten⁴⁻⁵. Der Verlust der großen Eisschilde lässt sich dagegen durchaus als Kipppunkt verstehen, läuft jedoch über viele Jahrhunderte hinweg ab, sodass man ihn kaum als Schock für die Menschheit begreifen könnte. Der einzige wissenschaftlich halbwegs gesicherte globale Kippunkt ist die komplette Vereisung der Erde, wie sie vor ca. 600 Millionen Jahren stattfand, und eventuell das komplette Verdampfen der Ozeane. Selbst die heutige aus dem Ruder gelaufene Menschheit müsste sich doch sehr anstrengen, die Erde an einen dieser Punkte zu bringen.

Um nicht falsch verstanden zu werden:

Ich halte den Klimawandel für genauso ernst wie die Klimaschutz-Aktivisten und viele andere Engagierte das tun. Ich finde, die Welt ist es wert, alles dafür zu tun, um den Klimawandel möglichst stark zu begrenzen. Aber genau deshalb sollten wir den Kampf für mehr Klimaschutz nicht mit wissenschaftlich fragwürdigen Thesen führen, die zwar Aufmerksamkeit erzeugen, uns aber irgendwann einholen werden. Die Kehrseite ist auch, dass sie Menschen demotivieren, überhaupt etwas zu tun, da ja “eh alles zu spät” sei.

Außerdem gibt es auch so genug gute Gründe für Klimaschutz. Denn sie existieren ja, die irreversiblen Effekte – nur eben nicht so sehr in der Physik des Klimawandels, sondern eher in seinen Auswirkungen: Wenn die Korallenriffe verschwinden, wenn der Regenwald einer Savanne weicht, wenn eine weitere Art ausstirbt, dann ist dieser Verlust endgültig. Das CO₂, das wir heute in die Luft blasen, bleibt zu einem Teil für Jahrhunderte in der Atmosphäre, zu einem kleinen Teil für Jahrmillionen. Der globale Ozean wird die Hitze des schon erfolgten Klimawandels noch tausende von Jahren halten. Auch das ist, auf der Zeitskala menschlicher Erfahrung, ziemlich unumkehrbar. Die Folgen sind also tatsächlich dramatisch.

Leider sind viele Menschen diesen Tatsachen gegenüber, und dem unfassbaren Verlust, der sich hier abzeichnet, verschlossen. Wir sollten alles tun, damit sie damit nicht durchkommen. Der Stumpfheit der anderen dadurch zu begegnen, möglichst noch dramatischere Szenarien zu entwerfen und so den Boden der wissenschaftlichen Korrektheit zu verlassen, ist aber der falsche Weg.

Referenzen

  1. Schellnhuber, H.J., S. Rahmstorf, and R. Winkelmann, 2016: Why the right climate target was agreed in Paris. Nature Climate Change 6: 649-653, https://doi.org/10.1038/nclimate3013.
  2. Steffen, W., R. Leinfelder, J. Zalasiewicz, 2016: Stratigraphic and earth system approaches to defining the anthropocene. Earth’s Future, 4: 324- 345, https://doi.org/10.1002/2016EF000379.
  3. Steffen, W., Rockström, J., Richardson, K., Lenton, T. M., Folke, C., Liverman, D., Summerhayes, C. P., Barnosky, A. d., cornell, S. E., Crucifix, M., Donges, J. F., Fetzer, I., Lade, S. J., Scheffer, M., Winkelmann, R., Schellnhuber, H.-J., 2018. Trajectories of the Earth System in the Anthropocene. Proceedings of the National Academy of Sciences 115: 8252–8259, https://doi.org/10.1073/pnas.1810141115.
  4. Drijfhout S., S. Bathiany, C. Beaulieu et al., 2015: Catalogue of abrupt shifts in Intergovernmental Panel on Climate Change climate models. Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA 112: E5777–86, https://www.pnas.org/content/112/43/E5777
  5. Bathiany, S., D. Notz, T. Mauritsen, V. Brovkin, and G. Raedel, 2016: On the potential for abrupt Arctic winter sea-ice loss. Journal of Climate 29:  2703–19, https://journals.ametsoc.org/jcli/article/29/7/2703/35516/On-the-Potential-for-Abrupt-Arctic-Winter-Sea-Ice
  6. Buckley, M. W., and J. Marshall, 2016: Observations, inferences, and mechanisms  of the Atlantic Meridional Overturning  Circulation: A review. Reviews of Geophysics 54, 5-63, doi:10.1002/2015RG000493, https://agupubs.onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/2015RG000493
  7. Tietsche, S., D. Notz, J. H. Jungclaus, and J. Marotzke, 2011: Recovery mechanisms of Arctic summer sea ice. Geophys. Res.  Lett., 38, L02707, doi:10.1029/2010GL045698, https://agupubs.onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1029/2010GL045698
  8. Bathiany, S., J. Hidding and M. Scheffer, 2020: Edge Detection Reveals Abrupt and Extreme Climate Events. Journal of Climate, doi: 10.1175/JCLI-D-19-0449.1.